Experimentelle Unfallchirurgie

Mechanismen der Frakturheilung

Eine Frakturheilungsstörung oder eine verzögerte Frakturheilung („delayed union“) liegt vor, wenn eine Fraktur nach vier Monaten nicht knöchern überbrückt ist. Findet auch nach sechs Monaten keine Frakturheilung statt, spricht man von einer Pseudarthrose („non-union“).

Hierbei sind die Gründe für eine verzögerte oder nicht stattfindende Frakturheilung vielfältig. Die häufigsten Gründe sind:

  • eine fehlende Gefäßversorgung, wodurch eine Knochennekrose entsteht,
  • eine nicht ausreichende Stabilisierung der Fraktur, wodurch eine zu große Beweglichkeit im Frakturspalt herrscht,
  • ein mangelnder Kontakt der Knochenfragmente
  • oder Komorbiditäten, wie Infektionen, Alter, Rauchen, Osteoporose, Steroideinnahme, Brandverletzungen oder ein Polytrauma.

Daher untersuchen wir in unserer Arbeitsgruppe die Ursache für Frakturheilungsstörungen und Pseudarthrosen im klinischen Kontext sowie in Tiermodellen. Das Ziel ist es hierbei, Frakturheilungsstörungen besser zu verstehen, um Risikopatienten frühzeitig erkennen und neue Therapien entwickeln zu können.

In unserem aktuellen Projekt untersuchen wir, ob nach großem Knochenverlust die Knochenverlängerung mittels einer sogenannten Kallusdistraktion schneller durchgeführt werden kann. Denn obwohl die Kallusdistraktion bereits lange etabliert ist und trotz der stetigen Entwicklung neuer Implantate, kann die Behandlungsdauer im Patienten Monate bis Jahre betragen, da bislang von einer geeigneten Distraktionsgeschwindigkeit von ca. 1 mm pro Tag ausgegangen wird. Daher ist unser Ziel, die optimale Distraktionsgeschwindigkeit am Anfang und am Ende der Distraktionsphase im Rattenmodell zu untersuchen. Die Gruppen unterscheiden sich hierbei anhand der Transportgeschwindigkeit (konstante Geschwindigkeit vs. erst schnell, dann langsam vs. erst langsam, dann schnell). Mit Hilfe von radiologischen (Röntgen, μ-CT-Scans), histologischen (Acrylathistologie), sowie molekularbiologischen (qRT-PCR, Western Blot) Methoden wird im Anschluss zu vier verschiedenen Zeitpunkten die Regenerationsqualität untersucht.

Einfluss eines Polytraumas auf das muskuloskelettale System

In der Medizin bezeichnet man ein Polytrauma als mehrere, gleichzeitig entstandene Verletzungen verschiedener Körperregionen, von denen eine Verletzung oder deren Kombination lebensbedrohlich ist (Definition nach Prof. Dr. med. Harald Tscherne). Hierbei wird ein Polytrauma in Deutschland im Wesentlichen durch Verkehrsunfälle und durch Unfälle bei der Arbeit oder in der Freizeit verursacht. Weiterhin sind die schwerverletzten Patienten in 70% der Fälle überwiegend männlich und im Durchschnitt ca. 40 Jahre alt. Wobei der Anteil an Patienten, die das 70. Lebensjahr bereits überschritten haben, in den letzten 10 Jahren kontinuierlich anstieg.

Durch eine Verbesserung der präklinischen und klinischen Versorgung von Schwerverletzten (z.B. Schockraumversorgung nach dem Advanced Trauma Life Support®) konnte in den letzten Jahrzehnten die Sterblichkeit deutlich gesenkt werden. Nichtsdestotrotz stellt das Polytrauma weiterhin die häufigste Todesursache unter 45 Jahren dar. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) verstirbt jeder achte Schwerverletzte. Dementsprechend haben aus sozioökonomischer Sicht unfallbedingte Todesfälle eine höhere Relevanz als bösartige Neubildungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, da sie mit einem größeren Verlust an Lebensjahren assoziiert sind. Etwa die Hälfte der versterbenden Patienten erliegt in den ersten 24 Stunden nach dem Unfall den Verletzungen infolge eines schweren Schädel-Hirn-Traumas oder unstillbarer Blutungen. Die restlichen 50 % versterben im weiteren klinischen Verlauf an einem Multiorganversagen oder einer generalisierten Infektion (Sepsis). Beiden Krankheitsbildern liegt eine komplexe Entzündungsreaktion des gesamten Organismus zu Grunde.

Weiterhin treten deutlich häufiger Komplikationen bei der Frakturheilung nach Polytrauma auf im Vergleich zu Patienten, die nur eine isolierte Fraktur erlitten haben. An den durchschnittlichen Klinikaufenthalt von 3 Wochen schließt sich dann eine lange Phase der gesundheitlichen, sozialen und beruflichen Rehabilitation an, sodass eine vollständige Wiedereingliederung von Schwerverletzten durchschnittlich erst 49 Wochen nach dem ursprünglichen Unfall erreicht ist. Daher untersucht unsere Arbeitsgruppe die zugrundeliegenden Mechanismen nach Polytrauma, um diese zu verstehen und anschließend positiv beeinflussen zu können, für eine bessere und schnellere Heilung, sowie Wiedereingliederung unserer Patienten. Der aktuelle Schwerpunkt liegt in der Untersuchung des Einflusses eines Polytraumas auf den Knochen, Muskel und Magen-Darm-Trakt mit Hilfe eines Langzeitmausmodells.

Regeneration nach Trauma

Eine weitere Herausforderung in der Unfallchirurgie ist die Heilung größerer Knochendefekte und die Therapie von Knorpelschäden. Dabei stellt der Gewebeersatz von zerstörten muskuloskelettalen Gewebe mit humanen mesenchymalen Stammzellen aus dem Knochenmark im Rahmen der regenerativen Medizin eine vielversprechende Therapieoption dar. Allerdings weisen diese Zellen spenderabhängig starke Unterschiede auf, die einen großen Einfluss auf den Erfolg der stammzellbasierten Therapie haben können. Diese Unterschiede finden sich insbesondere in der Fähigkeit der Stammzellen Knorpel (chondrogene Differenzierung) und Knochen (osteogene Differenzierung) bilden zu können.

Hierbei ist es interessant herauszufinden, was die Ursache dieser Patienten-abhängigen Unterschiede ist. Werden die Eigenschaften der Stammzellen durch das Alter, das Geschlecht, die Lebensweise oder auch (Vor-)Erkrankungen des Patienten beeinflusst? Dazu haben wir bereits Studien zum Einfluss des Alters, des Geschlechts und des BMI der Knochenmarkspender durchgeführt (Zong, Q. et al. Cell Transplant. 2024; Selle, M. et al. Bone. 2021). Genutzt haben wir eine Sammlung von kryokonservierten mesenchymalen Stammzellen aus dem Knochenmark. Das Knochenmark stammte von freiwilligen Spendern unserer Klinik, die nach ausführlicher Aufklärung in die Knochenmarkspende unter Anästhesie mittels Beckenkammpunktion während einer anstehenden Routineoperation eingewilligt haben. Die mesenchymalen Stammzellen wurden direkt nach der Entnahme des Knochenmarks in unserem Labor unter standardisierten Bedingungen isoliert und anschließend charakterisiert, indem wir das Selbsterneuerungspotential der Zellen (Colony-Forming Unit-Assay), die Expression von Oberflächenantigenen (Durchflusszytometrie) und die Differenzierbarkeit der Zellen in die adipogene, chondrogene und osteogene Richtung untersucht haben. Weiterhin wurden in einer Datenbank differenzierte anonymisierte Spenderdaten erhoben (Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, Grund des Krankenhausaufenthaltes, Begleiterkrankungen, eingenommene Arzneistoffe, ein kleines prä-operatives Blutbild, Raucherstatus, Alkoholkonsum, Ernährung, BMI und Angaben zur sportlichen Aktivität).

In Zukunft möchten wir mit diesen Zellen die Besiedlung von neuen innovativen Implantaten und neuartigen Materialien testen und freuen uns über interessante Kooperationsanfragen.

Publikationen (Auswahl)

Jiang Z, Clausen JD, Jahn D, Wulsten D, Gladitz LM, Bundkirchen K, Krettek C, Neunaber C. Ex vivo storage of human osteochondral allografts: Long-term analysis over 300 days using a Ringer-based solution. J Orthop Res. 2024 Mar 5.

Zhou Y, Meng F, Köhler K, Bülow JM, Wagner A, Neunaber C, Bundkirchen K, Relja B. Age-related exacerbation of lung damage after trauma is associated with increased expression of inflammasome components. Front Immunol. 2024 Jan 11;14:1253637.

Zong Q, Bundkirchen K, Neunaber C, Noack S. Effect of High BMI on Human Bone Marrow-Derived Mesenchymal Stromal Cells. Cell Transplant. 2024 Jan- Dec;33:9636897241226546.

Meng F, Zhou Y, Wagner A, Bülow JM, Köhler K, Neunaber C, Bundkirchen K, Relja B. Impact of age on liver damage, inflammation, and molecular signalling pathways in response to femoral fracture and hemorrhage. Front Immunol. 2023 Aug 24;14:1239145.

Zong Q, Bundkirchen K, Neunaber C, Noack S. Are the Properties of Bone Marrow-Derived Mesenchymal Stem Cells Influenced by Overweight and Obesity? Int J Mol Sci. 2023 Mar 2;24(5):4831.

Westerkowsky EK, Soares de Almeida AM, Selle M, Harms O, Bundkirchen K, Neunaber C, Noack S. Characterization of Human, Ovine and Porcine Mesenchymal Stem Cells from Bone Marrow: Critical In Vitro Comparison with Regard to Humans. Life (Basel). 2023 Mar 6;13(3):718

Örgel M, Elareibi M, Graulich T, Krettek C, Neunaber C, Aschoff HH, Ranker A, Winkelmann M. Osseoperception in transcutaneous osseointegrated prosthetic systems (TOPS) after transfemoral amputation: a prospective study. Arch Orthop Trauma Surg. 2023 Feb;143(2):603-610.

Bundkirchen K, Ye W, Nowak AJ, Lienenklaus S, Welke B, Relja B, Neunaber C. Fracture Healing in Elderly Mice and the Effect of an Additional Severe Blood Loss: A Radiographic and Biomechanical Murine Study. Bioengineering (Basel). 2023 Jan 5;10(1):70.

Haag F, Janicova A, Xu B, Powerski M, Fachet M, Bundkirchen K, Neunaber C, Marzi I, Relja B, Sturm R. Reduced phagocytosis, ROS production and enhanced apoptosis of leukocytes upon alcohol drinking in healthy volunteers. Eur J Trauma Emerg Surg. 2022 Aug;48(4):2689-2699.

He Y, Omar M, Feng X, Neunaber C, Jagodzinski M. Impact of smoking on the incidence and post-operative complications of total knee arthroplasty: A systematic review and meta-analysis of cohort studies. Bosn J Basic Med Sci. 2022 Jun 1;22(3):353-365.

Noack L, Bundkirchen K, Xu B, Gylstorff S, Zhou Y, Köhler K, Jantaree P, Neunaber C, Nowak AJ, Relja B. Acute Intoxication With Alcohol Reduces Trauma- Induced Proinflammatory Response and Barrier Breakdown in the Lung via the Wnt/β-Catenin Signaling Pathway. Front Immunol. 2022 May 18;13:866925.

Selle M, Koch JD, Ongsiek A, Ulbrich L, Ye W, Jiang Z, Krettek C, Neunaber C, Noack S. Influence of age on stem cells depends on the sex of the bone marrow donor. J Cell Mol Med. 2022 Mar;26(5):1594-1605. doi: 10.1111/jcmm.17201. Epub 2022 Jan 27.

Örgel M, Zimmer G, Graulich T, Gräff P, Macke C, Krettek C, Winkelmann M, Neunaber C. The impact of lifestyle on forearm fractures in children: A retrospective cohort analysis. Bone. 2021 Dec;153:116149.

Long Y, Bundkirchen K, Gräff P, Krettek C, Noack S, Neunaber C. Cytological Effects of Serum Isolated from Polytraumatized Patients on Human Bone Marrow- Derived Mesenchymal Stem Cells. Stem Cells Int. 2021 Nov 28;2021:2612480.

Homeier JM, Bundkirchen K, Winkelmann M, Graulich T, Relja B, Neunaber C, Macke C. Selective Inhibition of IL-6 Trans-Signaling Has No Beneficial Effect on the Posttraumatic Cytokine Release after Multiple Trauma in Mice. Life (Basel). 2021 Nov 17;11(11):1252.

Schrodi V, Neunaber C, Bundkirchen K, Ye W, Jiang Z, Petri M, Krettek C, Noack S. Characteristics of Mesenchymal Stem Cells Are Independent of Bone Marrow Storage Temperatures. Stem Cells Int. 2021 Oct 19;2021:6864988.

Leditzke K, Wagner MEH, Neunaber C, Clausen JD, Winkelmann M. Neutrophil Gelatinase-associated Lipocalin Predicts Post-traumatic Acute Kidney Injury in Severely Injured Patients. In Vivo. 2021 Sep-Oct;35(5):2755-2762.

Zeller AN, Selle M, Gong Z, Winkelmann M, Krettek C, Bundkirchen K, Neunaber C, Noack S. Osteoporosis is accompanied by reduced CD274 expression in human bone marrow-derived mesenchymal stem cells. Eur Cell Mater. 2021 May 31;41:603-615.

Relja B, Yang B, Bundkirchen K, Xu B, Köhler K, Neunaber C. Different experimental multiple trauma models induce comparable inflammation and organ injury. Sci Rep. 2020 Nov 19;10(1):20185.

Hensel N, Brickwedde H, Tsaknakis K, Grages A, Braunschweig L, Lüders KA, Lorenz HM, Lippross S, Walter LM, Tavassol F, Lienenklaus S, Neunaber C, Claus P, Hell AK. Altered bone development with impaired cartilage formation precedes neuromuscular symptoms in spinal muscular atrophy. Hum Mol Genet. 2020 Sep 29;29(16):2662-2673.

Laborausstattung:

Vollausgestatteter Kleintier-OP mit Kubtec 2D Parameter Röntgen/DXA Cabinet, Histologielabor für kalzifizierte und entkalkte Proben, Precellys 24 Homogenisator, Eppendorf Concentrator Plus, BioTek Epoch Microplate Reader, StepOne qRT-PCR,Vilber Fusion Fx Western-Blot Analyzer, Attune Flow Cytometer NxT, Keyence digitales 4K Microscope VHX7000, Olympus BX41 Mikroskop, Olympus CKX41 Fluoreszenzmikroskop, vollausgestatte Zellkultur

GRUPPENLEITUNG
Prof. Dr.
Claudia Neunaber
Klinik für Unfallchirurgie
Dr. med. vet.
Katrin Bundkirchen
Stellvertretende Leitung
Esther Molinski
Ärztin & Doktorandin
Dr. rer. nat.
Sandra Noack
Biologin
Claudia Pütz
Medizinisch-technische Assistentin
Jan-Moritz Ramge
Biologe & Doktorand
Kontakt

Prof. Dr. Claudia Neunaber

+49 511 532 2929

Neunaber.Claudia(at)mh-hannover.de

NIFE
Stadtfelddamm 34
30625 Hannover

 

crossmenu