Biomaterialentwicklung

Die Biomaterialentwicklung kann als grundlegendes Beispiel für die interdisziplinäre Kooperation im NIFE angesehen werden. Aus dem klinischen Alltag werden Anforderungen für synthetische und biologische Werkstoffe für Implantate definiert, die entweder konventionell, artifiziell, biohybrid mit resorbierbarer Struktur oder komplett biologisch hergestellt werden. Naturwissenschaftliche Arbeitsgruppen der Leibniz Universität Hannover und des Laserzentrums Hannover entwickeln intelligente Materialien und Methoden zur gezielten Modifikation und/oder Funktionalisierung. Die Ingenieurwissenschaften nutzen diese Ansätze, um daraus Werkstoffe im industriellen Maßstab für das Tissue Engineering und die Implantattechnologie nach GMP-Anforderungen bereitzustellen. Die Werkstoffe müssen vorab auf die gewünschten mechanischen und biologischen Eigenschaften getestet werden. Auf die Materialentwicklung nehmen medizinische Gruppen der Audio-Neurologie, des kardiovaskulären, dentalen, orthopädischen und skelettalen Bereichs Einfluss, indem sie die späteren Anforderungen in einem klinischen Zusammenhang an Patienten klar definieren und kommunizieren, so dass seitens der chemischen und technischen Gruppen eine klare Vision angestrebt wird und bedarfsgerecht entwickelt werden kann.

Bei der Materialentwicklung stehen nanoporöse, nanopartikuläre sowie polymere Materialien und Verbundwerkstoffe im Fokus. Die Werkstoffe müssen die von der klinischen Anwendung definierten mechanischen, physikalischen, biologischen und (bio-)chemischen Eigenschaften im Bulk und an der Oberfläche aufweisen. So müssen sie geeignete mechanische Festigkeit zeigen, biokompatibel und eventuell resorbierbar sowie sterilisierbar sein. Hinsichtlich der gewünschten Zell- und Gewebeintegration, Vermeidung von Biofilmbildung und Resistenz gegenüber Infektionen werden sie funktionell an der Oberfläche modifiziert oder mit nanoporösen Depots zur räumlich kontrollierten Freisetzung bioaktiver Substanzen (small-molecule drugs, spezifische Wachstumsfaktoren, Adhäsionsproteine) ausgerüstet. Oberflächenstrukturierte oder nanoporöse Materialien sollen ein gezieltes Wachstum einzelner Zellsysteme steuern und gezielt Material-Zellkontakte (beispielsweise Signalübertragung, Adhäsion, Permission) ermöglichen. Gerüste für das Tissue Engineering werden z. B. mit Templatemethoden auf chemischem Wege, mittels Kryoverfahren oder Elektrospinnen/-sprayen oder im 3D-Druck hergestellt und entsprechend ausgerüstet. Dabei müssen die Materialien für jede medizinische Aufgabenstellung maßgeschneidert werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist es nötig, die Materialien modular zu gestalten. Hierzu gehört nicht nur der Aufbau der Grundmaterialien, ihre Strukturierung und Charakterisierung, sondern auch die gezielte chemische Vorbereitung ihrer Oberflächen zur Ausstattung mit den gewünschten chemischen, physikochemischen und biologischen Oberflächeneigenschaften. Um diesen Wissenstransfer effektiv zu gestalten, ist eine enge, direkte Kooperation der einzelnen Arbeitsgruppen für jedes Applikationsfeld nötig. Die bedarfsgerechte Einstellung der biologischen Eigenschaften der Trägermaterialien erfordert die enge Zusammenarbeit der Material- und Wirkstoff-orientierten Arbeitsgruppen (AG Ehlert, Kirschning) wie auch des Einsatzes biotechnologischer und medizinischer Expertisen (AG Blume/Scheper), um die Oberflächen u. a. mit Adhäsionsfaktoren, Toxinen und Cytokinen wie auch Antibiotika zu dekorieren und unter funktionsgerechter Konditionierung und Belastung in angepassten Bioreaktoren zu untersuchen (AG Blume/Scheper, AG Blume eNIFE) und zu implantierbaren Geweben weiterzuentwickeln. Verschiedenste innovative Verarbeitungsverfahren für die Implantate und Hybride werden von den ingenieurtechnischen Gruppen in enger Kooperation mit den Partnern (AG Heisterkamp, Chichkov, Glasmacher) angeboten. Diverse Analysen-, Sensor- und Imaging-Systeme zur Herstellungsüberwachung und Funktionalitätsüberprüfung (inkl. Steuerungstechnik und integrierter Elektronik) stellen Arbeitsgruppen der LUH (AG Blume eNIFE, Heisterkamp, Glasmacher, Rosenhahn, Blume/Scheper, Ostermann, Zimmermann) zur Verfügung. Prüfverfahren für die unterschiedlichen Hybride, Implantate und funktionellen Gewebe werden in Kooperation der unterschiedlichen Arbeitsgruppen maßgeblich von der Ingenieurseite betreut (AG Glasmacher).

Die neu entwickelten Materialien werden in der AG Blume/ Scheper auf Biokompatibilität und auch auf spezifische klinische Anforderungen hin getestet und trainiert. Hierzu steht für das Testen ein gestaffeltes Assay-System, auch als präklinisches 3 D-Zellkulturmodell, zur Verfügung, welches mit humanen Zellen aus Zelllinien aber auch mit Primärzellen arbeitet. Außerdem wird hier die Möglichkeit der bedarfsgerechten Bioreaktorentwicklung für die Testung der dynamischen Kultivierung besiedelter Scaffoldmaterialien genutzt. Angepasste Bioreaktoren werden mit Sensoren und zugehöriger Elektronik für die Erfassung wichtiger Kultivierungs- und Zellstoffwechselparameter ausgestattet (z. B. Sauerstoff, Glukose, pH-Wert, Temperatur) und entwickelt (in Kooperation mit der AG H. Blume, eNIFE). Zudem erfolgt eine funktionsgerechte Belastung der zellbasierten Implantate (Mechanotransduktion) mittels definiert aufgebrachter Scherbelastung für den kardiovaskulären, Zugbelastung im muskoskelettalen oder Druckbelastung für den knöchernen Bereich. Es besteht der Anspruch einer Fortentwicklung solcher Soft-oder Hard-Tissue-Produkte bis zur Implantierbarkeit, wobei Großtiermodelle genutzt werden sollen.

Bedarfsgerecht modifizierte und funktionalisierte Biomakromoleküle und organisch-anorganische Kompositmaterialien werden für die zu entwickelnden Implantate synthetisiert. Das Institut für Technische Chemie produziert in enger Kooperation mit MHH-Arbeitsgruppen hierzu benötigte Cytokine oder Wachstumsfaktoren, aber auch Biomoleküle für Scaffolds wie Fibrinogen oder menschliches Kollagen u. ä. und stellt diese bereit. Die Produktion der biologisch aktiven Substanzen erfolgt in Bakterien- oder Säugerzellkulturen. Die Substanzen werden aufgereinigt und auf ihre biologische Aktivität überprüft, bevor sie zur Funktionalisierung der Biomaterialien der Institute der Organischen und Anorganischen Chemie bereitgestellt werden. Über optogenetische Verfahren werden in Kooperation mit verschiedenen Gruppen biohybride Implantate entwickelt, die eine optische Kontrolle von Zellfunktionen oder hochauflösende Stimulation von Nerven- und Muskelzellen erlauben (AG Heisterkamp, AG Blume/Scheper, AG Ehlert, LUH).

Eine Strukturgebung erfolgt durch Zusammenarbeit mit den AGs Nanomaterials und Nanotechnologie des Laserzentrums Hannover (AG Chichkov, Ripken); hier stehen Methoden auf Basis optischer Verfahren zur Oberflächenfunktionalisierung, Aufbau durch Zweiphotononenpolymerisation oder durch Einsatz spezifischer Nanopartikel zur Verfügung. Die Materialien für das Tissue Engineering sowie die Implantatbeschichtung werden unter kontrollierten statischen und dynamischen Kultivierungsbedingungen mit geeigneten Zellsystemen besiedelt. Sogenannte LIFT-Verfahren (Laser-induced Forward Transfer) ermöglichen die direkte Besiedelung mit Zellen in 3D. Über verschiedene Laser-basierte Verfahren können die entwickelten Konstrukte hochauflösend und über verschiedenste Skalen untersucht und charakterisiert werden.

In Zusammenarbeit mit klinischen Gruppen stehen Funktionsprüfgeräte für Endoprothesen (Knie, Hüfte) oder Zahnimplantate zur Verfügung. Als in vivo- Testsysteme, beispielsweise für mitwachsende Herzklappen (Tissue Engineering) werden Bioreaktor-Entwicklungen angestoßen. Hier ist die direkte Kooperation mit dem Querschnittsbereich in vivo-Imaging mit innovativer videobasierter Bildauswertung zur Online-Überwachung des Zellwachstums unerlässlich (AG Rosenhahn, eNIFE).

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