Die AG Innovative Amputationsmedizin untersucht den Einfluss von innovativen Amputationstechniken in der Kommunikation mit der Prothese und Therapiestrategien nach Extremitätenverlust. Sowohl in der klinischen Versorgung als auch in der Forschung ist es unser Ziel, eine gute Medizin bieten zu können, die dem Menschen eine gleichermaßen körperliche und soziale Wiederherstellung ermöglicht.
Moderne Prothetik bedeutet heutzutage nicht mehr nur ein Nachahmen von Verlorenem. Vielmehr sollen bionische Ansätze innovative, nachhaltige und ressourcenschonenden Lösungen schaffen. Das Kofferwort Bionik setzt sich aus den Begriffen Biologie und Technik zusammen. Bionik heißt für uns, dass wir den Menschen - sprich die Biologie des Menschen - durch einen zusätzlichen chirurgischen Eingriff so verändern, dass er bestmöglich mit der verfügbaren Technik kommunizieren kann und somit am Stumpf eine ganz neue Schnittstelle für die Informationsaufnahme entsteht. Die Bionik verbindet also die Biologie mit der Technik und schafft somit neue Versorgungsmöglichkeiten und-dimensionen für Menschen mit Handicap.
Weltweit gehört eine Amputation weiterhin zu einem der häufigsten chirurgischen Eingriffe. Als 2021 dieser Schwerpunkt innerhalb der Klinik für Unfallchirurgie etabliert wurde, haben wir mit dem Klinikdirektor Prof. Dr. med. Stephan Sehmisch bewusst die Entscheidung getroffen innovative Rehabilitationstrategien und Nachsorgekonzepte mit der chirurgischen Behandlung im Rahmen der Amputation zu synchronisieren. Forschung und Entwicklung in diesem Themenbereich soll eine holistische Versorgung, inklusive Perspektiven und den gesellschaftlichen Umgang miteinander fördern.
Zu den Chirurgischen Innovationen, die wir an der MHH im Rahmen der primären Amputation oder von Stumpfrevisionen versorgen und wissenschaftlich untersuchen zählen die Targeted Muscle Reinnervation (TMR), Targeted Sensory Reinnervation (TSR), Regenerative-Peripheral-Nerve-Interfaces (RPNI), Agonist-Antagonist-Myoneural-Interface (AMI) und die Osseointegration (OI). Nachstehend erläutern wir diese kompakt:
TMR ist eine zu Beginn der 2000er von Todd Kuiken (Rehabilitationsmediziner) und Gregory Dumanian (Plastischer Chirurg) in Chicago entwickelte Behandlungsmethode zur Verbesserung der myoelektrischen Prothesensteuerung. In einem aufwendigen, mikrochirurgischen Eingriff wird ein ausgewählter durchtrennter Nerv im Amputationsstumpf auf biomechanisch nicht mehr relevante Muskeln im Schaft oder nah des Schaftes umgeleitet und reinnerviert diesen. Dadurch entsteht ein neues und zusätzliches „Myosignal“, das zur Prothesensteuerung genutzt werden kann.
Hierdurch wird auch die Wahrscheinlichkeit für die (erneute) Entwicklung von schmerzhaften Neuromen verringert, denn das Wachstum der aussprossenden Nervenfasern wird organisiert und verläuft nicht mehr unkontrolliert.
Das Regenerative Peripheral Nerve Interface (RPNI) beschreibt ebenfalls eine selektive Nerventransplantation. Im Vergleich zur TMR benötigt dieses Verfahren deutlich weniger Zeit und kann auch von Nicht-Mikrochirurgen durchgeführt werden. Bei diesem Verfahren wird ein kleines, freies, avaskuläres, denerviertes Muskeltransplantat (maximal 30-40 mm Länge, 15-20 mm Breite und 5-6 mm Dicke) verwendet. Anschließend erfolgt eine Neovaskularisierung des Muskeltransplantats und eine Reinnervation durch Regeneration des Nervs. Dieser Prozess ermöglicht die Bildung neuer neuromuskulärer Verbindungen, die die Entstehung neuer Symptome der Neuropathie wirksam verhindern. Es hat sich gezeigt, dass der Einsatz von RPNI Phantomschmerzen um bis zu 53 Prozent und Neuromschmerzen um bis zu 71 Prozent reduzieren kann.
Ursprünglich wurde die Methode in Kombination mit implantierten Elektroden in Tiermodellen demonstriert, um Muskelsignale zu identifizieren, die für die Steuerung von Prothesen genutzt werden könnten. Es wurde nachgewiesen, dass das transplantierte Muskelgewebe renerviert wird und das Potenzial hat, in Zukunft als Signalgeber zu fungieren.
Insbesondere die sensorische Rückmeldung am Stumpf wird als entscheidend für die Verbesserung der Prothesenkontrolle, der Reduktion von Phantomschmerzen und das Embodiment (Körpergefühl) identifiziert. Zur Verbesserung des sensorischen Feedbacks kann die sogenannte TSR-Operation durchgeführt werden. Äquivalent zur TMR-Technik, wird bei der TSR-Operation ein ausgewählter durchtrennter sensorischer Nerv im Amputationsstumpf transponiert. Zunächst wird ein bestimmtes Hautareal am Amputationsstumpf denerviert. Im nächsten Schritt wird dieses denervierte Hautareal mithilfe eines Nerventransfers eines spezifischen sensorischen Nervs aus dem Amputationsstumpf reinnerviert. Diese Reinnervation führt dazu, dass eine Stimulation des operierten Hautareals als Stimulation am ursprünglichen Innervationsgebiet des transponierten Nervs wahrgenommen wird. Die Details der chirurgischen Technik ist abhängig von der Amputationshöhe, da sie festlegt, welche Nerven und Hautbereiche für die gezielte Reinnervation der Haut zur Verfügung stehen.
Wir führen die sog. Agonist-Antagonist-Myoneuronal-Interface-Technik (AMI) bereits bei einem Großteil der primären Amputationen durch. Hier werden Muskeln - und zwar die Agonisten (Spieler) und Antagonisten (Gegenspieler) - gezielt miteinander verbunden. Hierdurch bleibt die ursprüngliche Beugebewegung wie bei unversehrten Muskeln erhalten. Ziel der Entwickler aus Boston war die Wiederherstellung der Propriozeption. Propriozeption beschreibt die Fähigkeit des Menschen, die Lage und Bewegung seines Körpers im Raum auch bei geschlossenen Augen wahrzunehmen. Man spricht von der Propriozeption auch als „6. Sinn“. Erste Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die gezielte Verbindung dieser Muskel und Rückkopplungen der intramuskulären Rezeptoren die Gangsicherheit- und Griffreliabilität erhöhen. Gleichermaßen kommt es durch die Transposition der Muskeln zu einem verbesserten Abpolstern des Stumpfes. Die AMI-Technik ist eine Neuinterpretation der Myodese/Myoplastik.
Die AMI-Prozedur wird in der Regel mit einem der oben beschriebenen Nerveneingriffe kombiniert.
Bei einer osseointegrierten Prothese handelt es sich um eine knochengeführte Prothese. Ein Implantat wird operativ in den Knochen des Arm-oder Beinstumpfes eingesetzt und über einen Haut-/Weichteildurchtritt ausgeleitet - an diesem kann die Prothese direkt angedockt werden. Schaftassoziierte Probleme wie Druckstellen und Hautprobleme treten dabei nicht mehr auf. Eine sogenannte Osseoperzeption schafft eine zusätzliche Feedbackqualität durch die Knochenverankerung. OI ist u.a. aufgrund des erhöhten Infektrisikos im Vergleich zu einer Schaftprothese dennoch nur für bestimmte PatientInnen geeignet.
Derzeit laufende Studien und. Kooperationspartner:
Das Ziel der Studie ist festzustellen, ob ein selektiver Nerventransfer an der unteren Extremität von Stumpfneuromen zu einer Veränderung von Postamputations-Schmerzen, insbesondere Phantom- und Neuromschmerzen, - also zum „Targeted Muscle Benefit“ – führt. Weiterhin wird untersucht, ob die Schmerzreduktion das Gehvermögen, die Lebensqualität und die berufliche/soziale Teilhabe beeinflusst. Begleitet wird diese Studie durch ein APP-basiertes, digitalisiertes Schmerztagebuch.
Sarkome sind eine heterogene Gruppe von seltenen, soliden, malignen Tumoren. 70-80% aller Sarkome sind Weichteilsarkome, die restlichen 20-30% sind bösartige Knochentumore. Obwohl Sarkome fast überall im Körper auftreten können, sind die Extremitäten besonders häufig betroffen. In dieser Studie soll die aktuelle Versorgungssituation von Patienten mit Extremitätensarkomen hinsichtlich Rehabilitation, Anschlussheilbehandlung, Hilfs- und Heilmittelversorgung untersucht und bewertet werden. Die Studie ist ein Projekt innerhalb des Verbundes des Comprehensive Cancer Center Niedersachsen (Universitätsmedizin Göttingen & Medizinische Hochschule Hannover).
„Cyberful“ ist eine VR-Anwendung für Verletzungen der oberen Extremität (Frakturen, Sehnenverletzungen, Amputationen, Lähmungen, CRPS). Als virtuelle Physio-und Ergotherapie kann hochspezialisiert der verletzte Arm beübt werden und assoziierte Schmerzen durch virtuelle Spiegeltherapie, Motor-Imagery oder Games in den Bewegungsübungen therapiert werden.
Eine AR-basierte Anwendung für die untere Extremität ist die App Routine von RoutineHealth.
Link zur Website von NeuroXR: https://www.neuroxr.de
Die Arbeitsgruppe „Innovative Amputationsmedizin“ ist eine durch das Duderstädter Medizintechnikunternehmen Ottobock geförderte Advanced Clinician Scientist Nachwuchsgruppe mit dem Forschungsschwerpunkt „AMputatiOns- und RehaBILItationS Chirurgie Niedersachsen“ (MOBILISE-N). Gemeinsam mit der Universitätsmedizin Göttingen können wir in diesem Rahmen relevante Versorgungslücken analysieren und bearbeiten.
Gardetto, A., Müller-Putz, G. R., Eberlin, K. R., Bassetto, F., Atkins, D. J., Turri, M., Peternell, G., Neuper, O., & Ernst, J. (2025). Restoration of Genuine Sensation and Proprioception of Individual Fingers Following Transradial Amputation with Targeted Sensory Reinnervation as a Mechanoneural Interface. Journal of clinical medicine, 14(2), 417. https://doi.org/10.3390/jcm14020417
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