Das interdisziplinäre Forschungsgebiet „Tissue Engineering“ belegt die Schnittstelle zwischen Biologie (Isolation und Züchtung von Zellen), Medizin (Ersatz von fehlendem oder erkranktem Gewebe) und Ingenieurwissenschaften, einschließlich der Physik und der Chemie (Entwicklung und Herstellung synthetischer Matrices). Hier werden multilateral künstliche Gewebe im Labor hergestellt, die ihrem biologischen Vorbild in Form und Funktion möglichst nahekommen sollen, um den Funktionsverlust erkrankter oder zerstörter Gewebe eines Patienten wiederherzustellen. Für den Züchtungsprozess dieser Gewebe sind spezifische Prozesse, Verfahrens- und Etablierungsschritte notwendig, die interdisziplinär optimiert werden. Im Allgemeinen werden hierbei gewebespezifische Zellen mit einer formgebenden? Trägermatrix in einer speziellen Nährlösung kombiniert. Durch Zugabe spezieller Signalmoleküle und durch weitere spezifische Reize, wie z.B. mechanische Belastung, werden die Zellen angeregt, sich zielgerichtet zu entwickeln und physiologisch zu verhalten.
Die für die Bearbeitung solcher Zell-Matrixorganisationen unabdingbare Kooperation zwischen Materialentwicklung und Zellbiologie, sowie die untrennbar dazugehörige Prüfung durch Bildgebung von in vivo-, ex vivo- und in vitro-Funktionalität hat sich in Hannover hervorragend entwickelt. Im NIFE wurden exzellente Gruppen von acht Standorten in Hannover mit genau diesen wissenschaftlichen Schwerpunkten räumlich und inhaltlich zusammengeführt, was einen entscheidenden Mehrwert für Beförderung von Innovationen geschaffen hat.
Mit den ersten erfolgreichen Anwendungen in der Orthopädie (Knorpelersatz) und der Herzchirurgie (Herzklappen-Implantate) wurden die immensen Möglichkeiten dieser Technologie deutlich. Insbesondere der Nachweis des Wachstums implantierter Herzklappen im Körper eines Kindes wirft einen Blick auf völlig neue Wege des Gewebe- und Organersatzes. Ein besonders hoher Bedarf an regenerativer Therapie und Ersatz von degeneriertem Gewebe besteht jedoch bei älteren Menschen, was die Bedeutung des Tissue Engineerings vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung besonders plausibel macht. Wenn sich die hier vorgestellten Gruppen zunächst auf die Organsysteme Herz-Lunge-Gefäße, Hals-Nasen-Ohren (HNO)-Neuro und Muskulo-Skelettal-Dental fokussieren, so schließt dies nicht Entwicklungen für andere Organe aus, in denen ebenfalls ein dramatisch steigender Bedarf für Tissue Engineering Produkte besteht.
Hannover gehört weltweit zu den führenden Gruppen im Tissue Engineering von Herzklappen (AG Hilfiker) und Herzmuskelgewebe (AG Gruh/Martin). Auf dem Gebiet der Herzklappen soll im NIFE eine Erweiterung des Spektrums von Pulmonal-, auf Aorten- und Mitralklappen erfolgen, insbesondere unter den Aspekten der biomechanischen Belastbarkeit und regenerativen Eigenschaft (AG RESPONSE). Im Bereich des vaskulären Tissue Engineerings (AG Aper/Wilhelmi) werden bioartifizielle Gefäßprothesen und Patche auf xenogener und autologer Fibrin-Scaffold-Basis entwickelt, Prüfmethoden zur immunologischen Verträglichkeit etabliert und erste präklinische Prüfungen für ausgewählte Produkte durchgeführt. Des Weiteren wurde am Standort NIFE eine Arbeitsgruppe eingerichtet (AG Goecke/Ramm), die sich zum Ziel gesetzt hat, die Xenotransplantation von Lungen aus gentechnisch veränderten Schweinen zu ermöglichen. Hierfür stehen unter Anderem auch die Systeme und Erkenntnisse innerhalb der Arbeitsgruppe Ex-vivo Organperfusion (AG Wiegmann) zur Verfügung. Diese Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, u. a. neuartige Therapieansätze aus dem Tissue Engineering und der Regenerativen Medizin an Organen zu etablieren, welche außerhalb des Körpers in einem physiologischen ex vivo-Milieu mit körperwarmer Nährlösung oder Blut versorgt werden und diese dann im Hinblick auf ihre Funktionalität und Sicherheit im integrierten Organverband zu testen. Innerhalb der Arbeitsgruppe Wiegmann werden zudem die Methoden des Tissue Engineerings für die Entwicklung und Etablierung der Biohybridlunge als dauerhaft einsetzbares Alternativverfahren zur Lungentransplantation angewendet, insbesondere zur Biologisierung sogenannter Gasaustauschmembranen extrakorporale Membranoxygenatoren, die in Klein- und Großtiermodellen analysiert werden. Dem Schutz und der Regenration durch Anwendung des Prinzips des Tissue Engineerings im Innenohr hat sich die AG Warnecke verschrieben. Die Gruppe Heisterkamp, (LUH, IQO) verfolgt die Wechselwirkung der experimentellen Implantate mit den umliegenden Geweben laseroptisch in vivo. Für zukünftige Verfahren der 3D-Rekonstruktion von (Herz- und Gefäß-) Gewebe wird die bereits sehr erfolgreiche gemeinsame Arbeit mit der AG Chichkov, (LUH, IQO) aber auch der Arbeitsgruppe Rohde (Rapid Prototyping) mit der Biochemie (abbaubare Biopolymere) von zunehmender Bedeutung sein. All diese Gruppen haben bisher an verschiedenen Standorten in Hannover gearbeitet und werden durch die räumliche Nähe im NIFE in ihrer Zusammenarbeit unterstützt. Eine Zusammenarbeit von experimentellen und klinischen Forschern mit der hier vertretenen Breite und bereits erwiesener tiefer Expertise im Tissue Engineering hat national wie international Spitzencharakter.
Ziel aller Arbeitsgruppen im Forschungsbereich Tissue Engineering ist es, durch transdisziplinäre Ansätze von verschiedenen chirurgischen Abteilungen wie z.B. kardio-vaskulär, HNO oder Zahn-Mund-Kiefer (ZMK) zur rascheren Entwicklung eines Gewebeersatzes für entsprechende Therapieansätze zu gelangen. Im Zentrum der gemeinsamen Forschung und Entwicklung stehen dabei die Strategien, Gewebeersatz zu generieren, der dem nativen Vorbild strukturell, wie auch funktionell möglichst nahekommt. Dies geschieht u. a. durch die Optimierung von:
Diese Zusammenarbeit wird beispielhaft am Projekt „Vaskularisierung von Knochenersatz“ deutlich: Die mangelnde Vaskularisierung von Tissue Engineering Konstrukten führt zu einer Fehlversorgung der implantierten Gewebe. Um knöcherne Defekte im Kiefer- und Gesichtsbereich zu beheben, entwickelt die Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (AG Gellrich/Tavassol/Kampmann) einen Titan-basierten Knochenersatz, der mit Hilfe einer bioartifiziellen Gefäßprothese (AG Aper/Wilhelmi) vaskularisiert ist. In diesen Konstrukten soll eine eigene Mikrozirkulation realisiert werden, die das Einheilen unterstützt und das Versagen des implantierten Konstrukts verhindern soll. Der Einsatz geeigneter Markierungsstrategien und optischer Methoden (AG Heisterkamp) erlaubt eine direkte in vivo-Verfolgung des Prozesses.
Zudem hat der Bereich Tissue Engineering das Ziel, Herstellungsprozesse und Prüfverfahren dahingehend zu optimieren und standardisieren, um eine QM-gerechte Produktion einzelner Implantate für die (prä-) klinische Prüfung als Arzneimittel für neuartige Therapien vorzubereiten. Die etablierten Prozesse sollen modulartig in GMP-zertifizierte Betriebe übertragbar sein und so die Herstellung von Prüfpräparaten für die klinische Prüfung maßgeblich vorbereiten. Die so hergestellten Implantate werden in Tierversuchen auf ihre Funktionalität und Sicherheit geprüft. Ferner sollen neue Methoden zur Qualitätsprüfung entwickelt und etabliert werden, die geeignet sind, die hergestellten Gewebe nicht-invasiv zu charakterisieren, wie z.B. laseroptische Verfahren zur Charakterisierung der Besiedlungsdichte.
Gleichzeitig wird durch diese enge Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen eine attraktive Umgebung für den wissenschaftlichen Nachwuchs geschaffen, die eine Aus- und Weiterbildung an den Schnittstellen der biomedizintechnischen Forschung ermöglicht. So wird dem zunehmenden Bedarf an transdisziplinär ausgebildeten Forschern und Mitarbeitern für Hochschulen, Krankenhäusern und der medizintechnischen Industrie Rechnung getragen.